Durch meine Neurodiversität beschäftige ich mich oft mit Eigenschaften, die in der Gesellschaft entweder missverstanden oder stigmatisiert werden. Dabei sind diese Merkmale keine Schwächen, sondern einfach Teil der Art und Weise, wie mein Gehirn denkt und handelt – anders, aber nicht weniger wertvoll.

Erst mit 27 Jahren wurde mir bewusst, dass ich mich im neurodiversen Spektrum befinde. Bis dahin hatte ich mich oft als „schlechter“ oder „minderwertiger“ Mensch wahrgenommen – einfach als jemand, der nicht richtig in die Welt passt. Viele heute Erwachsene, die neurodivers sind, wurden entweder nie oder erst spät diagnostiziert. Dieses fehlende Bewusstsein und die mangelnde Aufklärung in diesem Bereich hat bei vielen zu Depressionen oder einem ständigen Drang, es anderen recht zu machen und in diese Welt zu passen, geführt. Aber darüber möchte ich noch mal in einem eigenen Beitrag sprechen.

Heute möchte ich über eine Eigenschaft schreiben, die mich persönlich oft beschäftigt und manchmal auch belastet: die Thematik mit der Objektkonstanz.

Oft wird das Problem der Objektpermanenz automatisch mit neurodiversen Menschen in Verbindung gebracht. Dabei bezeichnet dieser Begriff die kognitive Fähigkeit, zu verstehen, dass etwas weiterhin existiert, auch wenn es gerade nicht sichtbar oder spürbar ist. Diese Fähigkeit entwickelt sich bei den meisten Menschen ab einem Alter von etwa acht Monaten. Bei neurodiversen Menschen geht es jedoch nicht darum, dass uns dieses Wissen fehlt – natürlich wissen wir, dass Dinge außerhalb unserer Wahrnehmung weiterhin existieren. Und doch fühlt es sich manchmal so an, als würden sie „verschwinden“, sobald wir sie nicht mehr direkt vor Augen haben.

Neurodiverse Menschen, insbesondere jene mit ADHS, können Schwierigkeiten mit der kognitiven Wahrnehmung von Objektkonstanz haben – so auch ich.

Wenn ich Dinge nicht direkt in meinem Sichtfeld habe, vergesse ich sie oft komplett. Aufgaben, die nicht sichtbar auf meinem Schreibtisch liegen, geraten schnell in Vergessenheit. Kleidung, die in Schränken „versteckt“ verstaut ist, existiert für mich gedanklich quasi nicht. Und Lebensmittel im Vorratsschrank? Die bemerke ich oft erst, wenn sie längst abgelaufen sind. „Aus den Augen, aus dem Sinn“ trifft bei mir also in ziemlich wörtlichem Sinne zu.

Doch diese kognitive Herausforderung beschränkt sich leider nicht nur auf Objekte – und genau das ist für mich der belastendste Aspekt. Denn das gleiche Prinzip gilt auch für Menschen.

Wenn ich mit Freunden oder Familie eine schöne Zeit verbringe, ist alles intensiv und präsent. Doch sobald wir auseinandergehen, verschwinden sie aus meiner Wahrnehmung – nicht, weil sie mir nicht wichtig sind, sondern weil sie schlicht aus meinem Blickfeld geraten. Es können Wochen verstreichen, ohne dass ich mich melde, einfach weil ich es vergesse und die Zeit bei mir gedanklich schneller vergeht. Erst wenn ich zufällig auf alte Chatverläufe stoße, trifft mich wieder die Erkenntnis: Ich bin keine besonders gute Freundin, Tochter oder Enkelin, egal wie sehr ich es versuche. Ich nehme mir vor, mich regelmäßiger zu melden, aber früher oder später passiert es wieder. Das ist keine Entschuldigung, sondern schlicht meine Realität. Niemals steckt eine böse Absicht dahinter.

Genau deshalb fällt es mir schwer, Freundschaften zu finden und zu halten – zumindest mit neurotypischen Menschen, für die mein Verhalten vielleicht verletzend ist. Gleichzeitig kann ich ja schlecht beim ersten Treffen sagen: „Hi, ich bin Vivien. Ich bin neurodivers, das heißt, es könnte sein dass ich mich wochenlang nicht melde, aber das ist nicht absichtlich oder böse gemeint. Aber schön dich kennenzulernen!“ Das wäre dann wohl etwas… seltsam, oder?

Was mir in meiner Fernbeziehung zusätzlich bewusst geworden ist: Die Probleme mit der Objekt- und Personen-Konstanz hört leider nicht bei der physischen Präsenz auf – sie betrifft leider auch meine emotionale Ebene. Für mich ist es sehr schwer, eine emotionale Verbindung aufrechtzuerhalten, wenn die Person nicht in meiner Nähe ist. Oft fühlt es sich an, als würde diese Bindung mit der Distanz verblassen oder sogar ganz verschwinden – bis wir uns wiedersehen und alles sofort wieder da und unverändert ist. In den Zeiten, in denen wir getrennt sind, braucht es daher viel bewusste Arbeit, Bestätigung und regelmäßigen Kontakt, um die Verbindung nicht völlig zu verlieren.

Auch wenn ich durch meine Selbstdiagnose gelernt habe, meine Wesenszüge anzuerkennen und wertzuschätzen – anstatt sie, wie früher, bekämpfen zu wollen – hadere ich manchmal noch mit Schuldgefühlen. Wahrscheinlich ist das ein lebenslanger Prozess. Doch indem ich meine Eigenheiten annehme, kann ich in Liebe zu mir selbst Stück für Stück an ihnen arbeiten. Trotz alle dem möchte ich mich bei jedem entschuldigen, der sich durch mein Verhalten verletzt gefühlt hat. Das war nie meine Absicht und das ist auch keine Ausrede.

An alle, die neurodiverse Menschen in ihrem Leben haben – als Freunde, Partner oder Familie: Bitte habt ein wenig Nachsicht mit uns. Nichts davon ist böse gemeint, und auch wenn es manchmal vielleicht nicht so scheint – wir lieben euch.

Wir sind auch nur Menschen – nur mit ein paar Special Effects.


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